Proverbia Iuris

Audiatur et altera pars

Audiatur et altera pars – „Man höre auch die andere Seite“ – beschreibt den ein bereits im dem römischen Recht bekannten Anspruch auf rechtliches Gehör (Parteiengehör). In modernen Rechtsordnungen ist dieser Grundsatz regelmäßig als zentrales Verfahrensgrundrecht ausgestaltet. Audiatur et altera pars verlangt von dem Richter, alle Prozessbeteiligten zu hören hat, bevor er sein Urteil fällt.

Garantie des Rechtlichen Gehörs im Grundgesetz[↑]

Der Grundsatz des audiatur et altera pars ist in Deutschland in Art. 103 Abs. 1 festgeschrieben. Art. 103 Abs. 1 GG garantiert – als Folgerung aus dem Rechtsstaatsgedanken[1] – jedermann einen vor Gericht einen Anspruch auf rechtliches Gehör als grundrechtsgleiches Verfahrensgrundrecht (vgl. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG).

Das rechtliche Gehör ist damit auch ein objektivrechtliches Verfahrensprinzip, das für ein rechtsstaatliches Verfahren im Sinne des Grundgesetzes schlechthin konstitutiv ist[2]. Seine rechtsstaatliche Bedeutung ist auch in dem Anspruch auf ein faires Verfahren gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK sowie in Art. 47 Abs. 2 der Europäischen Grundrechte-Charta anerkannt. Der Einzelne soll gerade nicht nur Objekt der richterlichen Entscheidung sein, er soll vor einer Entscheidung, die seine Rechte betrifft, zu Wort kommen, um als Subjekt Einfluss auf das Verfahren und sein Ergebnis nehmen zu können[3]. Das rechtliche Gehör sichert den Parteien eines Gerichtsverfahrens ein Recht auf Information, Äußerung und Berücksichtigung mit der Folge, dass sie ihr Verhalten im Prozess eigenbestimmt und situationsspezifisch gestalten können. Insbesondere sichert es, dass sie mit Ausführungen und Anträgen gehört werden. Es verstößt daher gegen das Rechtsstaatsprinzip in Verbindung mit Artikel 103 Abs. 1 GG, wenn eine Verfahrensordnung keine fachgerichtliche Abhilfemöglichkeit für den Fall vorsieht, dass ein Gericht in entscheidungserheblicher Weise den Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt[4].

Art. 103 Abs. 1 GG steht daher in einem funktionalen Zusammenhang mit der Rechtsschutzgarantie[5]: Die Rechtsschutzgarantie sichert den Zugang zum Verfahren, während Art. 103 Abs. 1 GG mit der Garantie des rechtlichen Gehörs auf einen angemessenen Ablauf des Verfahrens zielt: Wer bei Gericht formell ankommt, soll auch substantiell ankommen, also wirklich gehört werden. Wenn ein Gericht im Verfahren einen Gehörsverstoß begeht, vereitelt es die Möglichkeit, eine Rechtsverletzung vor Gericht effektiv geltend zu machen[6].

Art. 103 Abs. 1 GG verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Das Verfahrensgrundrecht des rechtlichen Gehörs stellt dabei sicher, dass die von den Gerichten zu treffende Entscheidung frei von Verfahrensfehlern ergeht, welche ihren Grund in unterlassener Kenntnisnahme und Nichtberücksichtigung des Sachvortrags der Parteien haben[7].

Umfang der Garantie des Rechtlichen Gehörs[↑]

Art. 103 Abs. 1 GG garantiert jedem an einem gerichtlichen Verfahren Beteiligten das Recht auf rechtliches Gehör. Dieser Anspruch auf rechtliches Gehör umfasst mehrere Ausprägungen: Das Verfahrensgrund des rechtlichen Gehörs umfasst das Recht,

  • sich über den Verfahrensstoff zu informieren, wozu auch ein Recht auf Akteneinsicht zählt.
  • sich vor dem Erlass einer gerichtlichen Entscheidung in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht zumindestens schriftlich hinreichend äußern zu können. Der Anspruch auf rechtliches Gehör garantiert dem Betroffenen allerdings lediglich die Möglichkeit, sich im Verfahren zu äußern. Ob er diese Möglichkeit wahrnimmt oder nicht, obliegt seiner eigenen Entscheidung, das Gericht muss nicht darauf hinwirken, dass tatsächlich eine Äußerung erfolgt. Hat der Betroffene im Einzelfall eine Möglichkeit zur Äußerung gehabt, so ist ihm auch dann ausreichendes rechtliches Gehör gewährt worden, wenn er diese Möglichkeit nicht wahrgenommen hat.
  • dass sich das Gericht mit seinem Vorbringen befasst und sein Vorbringen bei der Entscheidungsfindung berücksichtigt. Der Grundsatz des rechtlichen Gehörs verpflichtet das Gericht allerdings nur, das Vorbringen des Berechtigten zur Kenntnis zu nehmen und bei seiner Entscheidung abzuwägen. Es garantiert dagegen nicht, dass das Gericht die Argumente schlussendlich doch verwirft, weil es sie für unerheblich oder unzutreffend hält. Das Gericht muss sich auch nicht mit allen auch noch so abwegigen Argumenten der Beteiligten auseinandersetzen, sondern nur mit den wesentlichen.
  • durch Zugang Kenntnis von der Entscheidung zu erhalten.

Rechtliches Gehör und die Anhörungsrüge[↑]

Aus – sich entlastender – Sicht des BVerfG folgt(e) aus
Aus Art. 103 Abs. 1 GG folgert das Bundesverfassungsgericht in Verbindung mit dem Justizgewährungsanspruch, der als Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips aus Art. 20 Abs. 3 GG folgt, die Pflicht des Gesetzgebers, die Möglichkeit einer Gehörsrüge auf der fachgerichtlichen Ebene zu eröffnen[8]. Erfolgt die behauptete Verletzung des Verfahrensgrundrechts in der letzten in der Prozessordnung vorgesehenen Instanz und ist der Fehler entscheidungserheblich, muss die Verfahrensordnung eine eigenständige gerichtliche Abhilfemöglichkeit vorsehen. Anderenfalls bliebe die Beachtung des Grundrechts aus Art. 103 Abs. 1 GG letztendlich kontrollfrei. Dieser ist der Gesetzgeber 2004 mit dem Anhörungsrügengesetz nachkommen.

Rechtliches Gehör im Zivilprozess[↑]

Im Zivilprozess findet sich das Verfahrensgrundrecht des rechtlichen Gehörs in einer Reihe von Ausprägungen:

  • Die Möglichkeit der Stellungnahme zu gegnerischem Vortrag

    Die Gewährung rechtlichen Gehörs bedingt, dass einer gerichtlichen Entscheidung nur solche Tatsachen und Beweisergebnisse zugrunde gelegt werden dürfen, zu denen sich die Beteiligten vorher äußern konnten. Die Gerichte sind daher nach § 156 Abs. 1 und 2 Satz 1 ZPO verpflichtet, die mündliche Verhandlung von Amts wegen wieder zu eröffnen, wenn eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör erkennbar ist, etwa weil eine Partei zulässigerweise noch neuen Vortrag in den Prozess eingeführt hat.

  • Berücksichtigung von Beweisanträgen

    Das rechtliche Gehör in Verbindung mit den Grundsätzen der Zivilprozessordnung gebietet die Berücksichtigung erheblicher Beweisanträge. Zwar gewährt Art. 103 Abs. 1 GG keinen Schutz dagegen, dass das Gericht das Vorbringen der Beteiligten aus Gründen des formellen oder materiellen Rechts ganz oder teilweise unberücksichtigt lässt. Die Nichtberücksichtigung eines als erheblich angesehenen Beweisangebots verstößt aber dann gegen Art. 103 Abs. 1 GG, wenn sie im Prozessrecht keine Stütze mehr findet[9].

  • Hinweispflicht des Gerichts

    Art. 103 Abs. 1 GG garantiert den Verfahrensbeteiligten, dass sie Gelegenheit erhalten, sich vor Erlass einer gerichtlichen Entscheidung zu dem zugrundeliegenden Sachverhalt zu äußern und dadurch die Willensbildung des Gerichts zu beeinflussen. An einer solchen Gelegenheit fehlt es nicht erst dann, wenn ein Beteiligter gar nicht zu Wort gekommen ist oder wenn das Gericht seiner Entscheidung Tatsachen zugrundelegt, zu denen die Beteiligten nicht Stellung nehmen konnten[10]. Eine dem verfassungsrechtlichen Anspruch genügende Gewährung rechtlichen Gehörs setzt auch voraus, dass der Verfahrensbeteiligte bei Anwendung der von ihm zu verlangenden Sorgfalt zu erkennen vermag, auf welchen Tatsachenvortrag es für die Entscheidung ankommen kann[11]. Zwar ergibt sich aus dem in Art. 103 Abs. 1 GG garantierten Verfahrensgrundrecht des rechtlichen Gehörs keine allgemeine Frage- und Aufklärungspflicht des Richters. Ein Gericht verstößt aber dann gegen Art. 103 Abs. 1 GG und das Gebot eines fairen Verfahrens, wenn es ohne vorherigen Hinweis Anforderungen an den Sachvortrag stellt oder auf rechtliche Gesichtspunkte abstellt, mit denen auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Prozessverlauf nicht zu rechnen brauchte[12].

  • Berücksichtigung des Parteivortrags

    Das in Art. 103 Abs. 1 GG verbürgte Verfahrensgrundrecht auf rechtliches Gehör verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Verfahrensbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Das rechtliche Gehör ist allerdings erst verletzt, wenn sich im Einzelfall klar ergibt, dass das Gericht dieser Pflicht nicht nachgekommen ist, also wenn im Einzelfall besondere Umstände deutlich machen, dass das tatsächliche Vorbringen eines Beteiligten entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder bei der Entscheidung nicht erwogen wurde oder wenn die Nichtberücksichtigung von Vortrag oder von Beweisanträgen im Prozessrecht keine Stütze mehr findet[13].

    Das rechtliche Gehör einer Partei ist auch verletzt, wenn ein Gericht den unstreitigen Parteivortrag als streitig und für nicht bewiesen erachtet, oder wenn das Gericht auf den wesentlichen Kern des Tatsachenvortrags einer Partei zu einer Frage, die für das Verfahren von zentraler Bedeutung ist, in den Entscheidungsgründen nicht eingeht, sofern der Vortrag nicht nach dem Rechtsstandpunkt des Gerichts unerheblich oder aber offensichtlich unsubstantiiert war.

  • Zeugenvernehmung

    Ein Verstoß gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör liegt auch vor, wenn ein Berufungsgericht ohne erneute Zeugenvernehmung von der erstinstanzlichen Beweiswürdigung abweicht.

  • Erörterung eines Sachverständigengutachtens

    Will sich ein Gericht bei seiner Entscheidung auf ein Sachverständigengutachten stützen, gehört es zum verfassungsrechtlichen Anspruch auf rechtliches Gehör, den Parteien auf Antrag die Gelegenheit zur weiteren Erläuterung des Sachverständigengutachtens einzuräumen, und zwar unabhängig davon, dass das Gutachten dem Gericht überzeugend und nicht weiter erörterungsbedürftig erscheint[14].

Rechtliches Gehör im Strafprozessrecht[↑]

Das Verfahrensgrundrecht des rechtlichen Gehörs findet sich im Strafprozessrecht etwa in den Vorschriften zur Anhörung der Beteiligten (§ 33 StPO) und zur Nachholung des rechtlichen Gehörs (§ 33a StPO; in der Beschwerdeinstanz § 311a StPO; und § 356a StPO in der Revisionsinstanz).

Rechtliches Gehör und die Rechtsmittel[↑]

Die Missachtung des rechtlichen Gehörs verletzt den Betroffenen in seiner allgemeinen Handlungsfreiheit gemäß Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip gemäß Art. 20 Abs. 3 GG[15]. Verstöße gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör können mit den normalen, in der jeweiligen Prozessordnung vorgesehenen Rechtsmitteln geltend gemacht werden.

Anhörungsrüge[↑]

Ist – bei letztinstanzlichen Entscheidungen – ein Rechtsmittel nicht mehr gegeben, so kann beim iudex a quo, also dem Ausgangsgericht, eine Anhörungsrüge erhoben werden, mit der die Verletzung des rechtlichen Gehörs gerügt wird.

Eine ohne vorherige Anhörungsrüge erhobene Verfassungsbeschwerde wäre wegen Nichterschöpfung des Rechtswegs (§ 90 Abs. 2 S. 1 BVerfGG) unzulässig[16].

  1. BVerfG 18.01.2011 – 1 BvR 2441/10[]
  2. vgl. BVerfGE 55, 1, 6[]
  3. vgl. BVerfGE 9, 89, 95[]
  4. BVerfG, Beschluss vom 30.04.2003 – 1 PBvU 1/02, Rn. 38[]
  5. vgl. BVerfGE 81, 123, 129[]
  6. BVerfG, Beschluss vom 30.04.2003 – 1 PBvU 1/02, Rn.40[]
  7. BVerfG, Beschluss vom 08.04.2004 – 2 BvR 743/03, Rn. 11[]
  8. BVerfGE 107, 395, 410 f.[]
  9. BVerfGE 69, 141, 143 f.[]
  10. vgl. BVerfGE 10, 177, 182 f.; BVerfGE 19, 32,36; ständige Rechtsprechung[]
  11. vgl. BVerfGE 84, 188, 190[]
  12. vgl. BVerfGE 84, 188, 190; BVerfGE 86, 133, 144 f.; BVerfGE 7, 350, 354[]
  13. BVerfG, Beschlüsse vom 26.11.2011 – 2 BvR 320/11; und vom 18.01.2011 – 1 BvR 2441/10[]
  14. BVerfG, Beschluss vom 14.03.2007 – 1 BvR 2485/06[]
  15. BVerfG, Beschluss vom 12.01.2000 – 1 BvR 1621/99, NJW 2000, 1634[]
  16. BVerfG, Beschlüsse vom 06.12.2011 – 1 BvR 1681/11; und vom 14.12.2011 – 2 BvR 68/11[]

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